Doppelmoral

Von Bastard zu Bastard

Da ich kein Freund von ausschweifenden und sich ausdehnenden Einleitungen bin, komme ich direkt zum Punkt. Im Juni des Jahres 2020 widmete eine TAZ-Autorin der Polizei einen extrem scharf formulierten Artikel. Ich komme nicht umher, den Artikel dieser Dame als „Hetze“ – welche ironischerweise von derselben Person verurteilt wird – zu bezeichnen. Medien und Gesellschaft fragten sich, ob dieser Artikel eine kollektive Beleidung der Polizei darstellte, hitzige Debatten brachen aus, das Thema wurde zum Politikum. Der amtierende Innenminister, Horst Seehofer, drohte ihr mit einer Klage, die er jedoch anschließend zurückzog. Maßgebend für diesen Sachverhalt ist ein Urteil des Amtsgerichts Tiergarten, das im Jahr 2000 in einem Beschluss feststellte, dass das Tragen eines Bekleidungsstücks mit der Abkürzung ACAB (all cops are bastards, z. Dt. alle Polizisten sind Bastarde), höchstens eine Beleidung eines Kollektivs darstelle, jedoch sei dieses Kollektiv aufgrund der unüberschaubaren Masse an Polizisten nicht ausreichend definierbar. Um diese zugrundeliegende Rechtsprechung soll es im folgenden Essay gehen, ich werde aufzeigen, dass die der Rechtsprechung zugrundeliegende Logik inkonsistent und teilweise absurd ist. Zitieren wir zuerst das Urteil, um uns einen Überblick zu verschaffen.

 

Im vorliegenden Fall kann es sich angesichts der tatsächlichen Umstände (Tragen eines T-Shirts mit dem Aufdruck ‚A.C.A.B.‘) nur um die Beleidigung eines Kollektivs handeln, da dies die Abkürzung für den englischen Satz ‚All Cops Are Bastards‘ sein soll. […] Nach der Rechtsprechung des BGH und des BVerfG (vgl. BVerfG NJW 1995, 3303, 3306, sog. zweite ‚ Soldaten sind Mörder‘-Entscheidung) ist es verfassungsrechtlich zwar grundsätzlich unbedenklich, die Ehre eines Kollektivs zu schützen. Jedoch muss das Kollektiv, um beleidigungsfähig zu sein, klar abgrenzbar sein. […] Sollte es sich bei der […] Abkürzung ‚A.C.A.B.‘ um den englischen Satz ‚All Cops Are Bastards‘ handeln, ist damit eine unüberschaubar große Gruppe, nämlich ‚alle Polizisten‘ (‚All Cops‘) getroffen. ‚Alle Polizisten‘ ist jedenfalls nach der Rechtsprechung des BVerfG (3306 f. zum Problem der Formulierung ‚Alle Soldaten‘) kein ausreichend definiertes Kollektiv. […] Es kann daher nicht mit der für eine Verurteilung wegen Beleidigung notwendigen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Angeschuldigte seiner Missachtung grundsätzlich allen Polizisten gegenüber als den Vertretern der Staatsgewalt, völlig unabhängig von ihrer Nationalität, ausdrücken wollte. Dies ist als (strafbare) Beleidigung einer unüberschaubaren großen Personengruppe zu werten. [sic!]

Alle bedeutet nicht alle

Die Unterstreichungen von mir sollen meine Kritikpunkte herausheben. Beginnen wir mit einem kleineren Punkt, bevor wir die Hauptkritik behandeln, er bezieht sich auf diesen Teil des oben zitierten Textes:

„[…] Es kann daher nicht mit der für eine Verurteilung wegen Beleidigung notwendigen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Angeschuldigte seiner Missachtung grundsätzlich allen Polizisten gegenüber als den Vertretern der Staatsgewalt, völlig unabhängig von ihrer Nationalität, ausdrücken wollte.“

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Angeschuldigte alle Polizisten meinte? Was bedeutet das Wort „alle“ denn? Begegnen wir dem Spruch „A.C.A.B.“ auf der reinen Inhaltsebene, meint der Angeschuldigte alle Polizisten. Und da er diese Aussage auf einem Kleidungsstück trägt bzw. verbal äußert, impliziert dies die Zustimmung des Angeschuldigten mit der Aussage, alle Polizisten seien Bastarde. Folgerichtig müssen wir davon ausgehen, dass derjenige gemäß eigener Aussage „alle“ meint. Nehmen wir an, ein Rassist würde behaupten: „Alle Ausländer sind Bastarde“, würde der Richter dann auch zu der Schlussfolgerung kommen, dass die Wahrscheinlichkeit bestehen könne, er meine nicht alle? Mir ist schleierhaft, wie der Richter zu dieser Konklusion kommen konnte.

Hauptkritikpunkt

Ein weiterer Kritikpunkt, den ich an der Rechtsprechung zu äußern habe, bezieht sich auf die Abgrenz- und Definierbarkeit der Gruppe. Nach dem o.g. Beschluss müsste das Kollektiv, um beleidigungsfähig zu sein, genau abgrenzbar sein. Die Gruppe „all cops“ definiert alle Menschen, die den Beruf des Polizisten ausüben, insofern ist dies eine genau definierbare Gruppe von Menschen. Hätte das Amtsgericht anders geurteilt, wenn eine kleinere klar definier- und abgrenzbare Gruppe wie z.B. alle Polizisten der Kriminalpolizei oder alle einer Hundertschaft oder die gesamte Hundestaffel gemeint gewesen wäre? Wie sähe es aus, wenn man T-Shirts mit der Aufschrift A.J.A.B. (all jews are bastards), A.M.A.B. (all muslims are bastards) oder A.B.A.B. (all buddhists are bastards) trüge? Der Leser möchte an dieser Stelle durch Introspektion seine möglicherweise emotionale Ambivalenz bei den jeweiligen Religionsgruppen beobachten. Ich behaupte, das Tragen eines Kleidungsstückes mit der Aufschrift „all muslims are bastards“ würde nicht nur Anzeige wegen Volksverhetzung nach sich ziehen, eine Verurteilung wäre wahrscheinlich – der Aufschrei der Medien unausweichlich. Die Frage liegt auf der Hand: Wo zieht man also die Grenze und aus welchem Grund sind einige veränderbare Attribute wie Religion mehr wert als andere? Bei der Argumentation, die Polizei stelle eine unüberschaubare Gruppe von Menschen dar, stellt sich mir die Frage, warum dies nicht auch für Religionsgemeinschaften gilt.

Ein paar Zahlen

Nach der Bundeszentrale für politische Bildung betrug die Polizeistärke im Jahr 2017 insgesamt 250.768 in Gesamtdeutschland.

Nach Auskunft des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge lebten gegen Ende 2015 insgesamt 4,4 bis 4,7 Millionen Muslime in Deutschland.

Schlussfolgerung

Abgesehen davon, dass ich kein Freund kollektiver Verurteilungen bin, ist die logische Konklusion an dieser Stelle, dass wenn das Tragen eines Shirts mit der Aufschrift „A.C.A.B.“ erlaubt ist, weil Polizisten eine unüberschaubare Gruppe von Menschen darstellen, dies ebenso für das Shirt „all muslims are bastards“ gelten müsste, da deren Kollektiv ebenso unüberschaubar und frei wählbar ist.

Man kann natürlich an der Stelle argumentieren, dass Religion im Leben eines Menschen aufgrund der Beziehung zu Gott einen sehr hohen Stellenwert einnimmt, jedoch ist diese Bewertung subjektiv, einigen ist vielleicht ihr Beruf wichtiger als Religion. Für die meisten Menschen in Deutschland hat Religion mutmaßlich einen eher geringen Stellenwert. Was beide Attribute (Beruf und Religion) gemein haben, ist ihre freie Wählbarkeit. Es sind keine Eigenschaften, die an Herkunft, Geschlecht oder Ethnie gekoppelt sind und darauf liegt mein persönlicher Fokus bei der Beurteilung dieser Entscheidung des Amtsgerichts Tiergarten. Wenn also die Anzahl der Polizisten in Deutschland nicht größer als die Anzahl der Muslime ist und beide Eigenschaften (Religion und Beruf) frei wählbar sind, stellt sich mir die Frage, wieso mit zweierlei Maß gemessen wird. Infolge der obigen Argumentation würde auch die Begründung für die Rechtsprechung hinfällig werden, da offensichtlich ist, dass Polizisten insgesamt zu einer definitiv überschaubareren Gruppe gehören als Muslime in Deutschland, da letztere Millionen von Anhängern zählen und Polizisten nur ca. 250.000.

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Gerrit Kaminski, Gastautor

Gerrit Kaminski, geboren 1991 im Ruhrgebiet, schloss sein Abitur an einem Wirtschaftsgymnasium im Jahr 2012 ab. Er begann im selben Jahr ein duales Studium bei einer Krankenkasse, verfolgte jedoch die Ausbildung zum Sozialversicherungsfachangestellten nicht weiter und erhielt seinen Bachelorabschluss im Gesundheitsmanagement an einer privaten Hochschule im Jahr 2019. Als Psychologie, Philosophie, Politik und Literatur interessierter Connaisseur verfasst er Schriften über philosophische und politische Themen. Da er nach neuen Herausforderungen sucht und Individuation bzw. Selbstverwirklichung einen hohen Stellenwert beimisst, entschied er sich, sein Interesse zum Beruf zu machen und ein Psychologiestudium zu beginnen.

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